Wenn wir bedenken, dass Faszien unseren gesamten Körper, jede einzelne Zelle durchziehen, wird plausibel, dass eine Lapalie wie ein umgeknickter Fuß in einem Großereignis wie einer Hüftarthrose enden kann. Unser Gewebe reagiert nicht lokal begrenzt und endet nicht unterhalb des Knies.
Wenn die Faszie am äusseren Fußknöchel überdehnt ist, wird das Knie seine Position verändern, um die nicht mehr vorhandene Stabilität an anderer Stelle zu kompensieren.
Das passiert nicht von jetzt auf gleich, denn unser Körper ist ein Meister im Kompensieren. Aber kompensiert ist eben nicht weg. Die Spannung hat sich nur anders im
Körper verteilt, wie bei einem lang gezogenem Gummiband.
Das kann sehr lange gut gehen, und die kleinen, plötzlich gehäuft auftretenden Zipperlein sind zu gering, als dass man sie tatsächlich Ernst nehmen würde.
Bis dann der berühmte Tropfen das Fass zum überlaufen bringt. Und man kommt nicht unbedingt auf die Idee, dass dies nur der Endpunkt einer Reihe von vielen kleinen Veränderungen/Kompensationen ist. Wir sehen ein lokales Problem und übersehen den globalen Zusammenhang.
Die bekannte Physiotherapeutin Diane Lee veranschaulicht dieses Prinzip recht eindrucksvoll mit dem Satz: "Es sind die Opfer die schreien, nicht die Täter!"
Und genau diese Komplexität macht die Faszientherapie so spannend, effektiv und oftmals unumgänglich um Beschwerden nachhaltig zu beseitigen.
Ich habe keinen Zauberstab, denn wie oben beschrieben, sind plötzlich auftauchende Beschwerden oftmals nur das Ende einer Reihe von Ereignissen. Der Ist-Zustand hatte Zeit zu entstehen - und genauso braucht er Zeit und Hilfe um sich wieder zu regenerieren.
Das Bindegewebe so in Fluss zu bringen, dass es seinen vielen Aufgaben wie Stabilität und Elastizität sowie Stoffwechsel und Transport diverser Substanzen nachkommen kann, ist sowohl Therapie als auch Vorsorge und ein unglaublich spannendes Arbeitsfeld, dem ich mich leidenschaftlich gern widme. Sowohl auf muskulärer Ebene, als auch im organischen Bereich.
1. Faszien spielen im Körper eine Vermittlerrolle zwischen Muskeln und Knochen. So sorgen sie für mehr Stabilität als Muskeln, aber gleichzeitig
auch für mehr Mobilität als Knochen.
2. Fasziales Gewebe finden wir in allen Teilen unseres Körpers. Jede einzelne Zelle wird von einer Faszie umhüllt. Würde es uns gelingen, den Inhalt der faszialen Umhüllungen zu entfernen, so
würde trotzdem eine exakte Hülle des Menschen bestehen bleiben.
3. Dr. Robert Schleip (Universität Ulm) hat nachgewiesen, dass Faszien kontraktile Elemente enthalten. Dies führt bei andauerndem Stress über das autonome Nervensystem zu einer Erhöhung des
faszialen Tonus, welches wir dann als Spannung und Steifigkeit spüren.
4. Faszien kann man zu den Sinnesorganen zählen. Sie enthalten mehr Nervenfasern als beispielsweise unsere Haut oder Augen. Daher führt eine Störung in der Faszie auch zum Teil zu sehr starken
Schmerzen.
5. Über fasziale Ketten werden Spannungen im ganzen Körper verteilt. Physiologisch dient dies dazu, auftretende Kräfte durch Verteilung abzuschwächen. Pathologisch kommt es durch Restriktionen an
einer Stelle zu einer Fehlspannung an einem möglicherweise weit davon entfernten Körperteil.
6. Faszien unterstützen die Muskulatur bei Kontraktion. Sie halten den Muskel in seiner Form und bieten ihm ein Widerlager zum Kraftaufbau. Durch Vordehnung speichert die Faszie Energie, welche
bei Bewegung dann zusammen mit dem Muskel freigegeben wird (z. B. beim Speerwerfer).
Lange Zeit war unser Bindegewebe ein sehr vernachlässigtes Organ. Der Füll- oder Trennstoff in unserem Körper, dessen Aufgabe es war, Hohlräume auszukleiden und die wichtigen Schaltzentralen miteinander zu verbinden. Es gab Pioniere, wie Elisabeth Dicke, die die Bindegewebsmassage entwickelte, Ida Rolf, die Begründerin des Rolfings und Andrew Taylor Still, den Vater der Osteopathie, die ihre wichtige Funktion entdeckten, erkannten, erahnten. Aber innerhalb der anerkannten Allgemeinmedizin führten unsere Faszien ein Schattendasein.
Als ich in den 90er Jahren das erste Mal Kontakt zu osteopathischen Techniken wie der Kraniosakralen Therapie bekam, war das alles noch wahnsinnig verschrien, verleumdet, belächelt.
"Das sind die, die anderen das Köpchchen halten und das soll dann was bringen," war an der Tagesordnung.
"Die Schädelknoch sollen sich bewegen, haarharhar...," ja, es wurde viel gespottet und verhöhnt.
Die Krux ist, dass es noch nicht so feine Messinstrumente wie heute gab, und man kann eben nur erforschen, wofür man auch die Mittel hat. Ein Gedanke, der mich immer umtreibt, wenn ich Politiker wie Mediziner über Homöopathie urteilen höre. Aber das ist ein anderes Thema. Oder nicht?
Dank einiger neugieriger Menschen, darunter u.A. dem Psychologen und Bodyworker Robert Schleip, heute Humanbiologe und Direktor der Fascia Research Group, Division of Neurophysiology an der Universität Ulm, konnten Faszientherapie, Kraniosakral und weitere naturheilkundliche Methoden wie die Akupuktur inzwischen entmystifiziert werden. Dabei hatte Herr Schleip nur ein paar Erklärungen für körperliche Effekte gesucht, die ihm bei der Körperarbeit mit "Rolfing" begegneten. Er wollte wissen, wieso Interventionen Resultate an Stellen erbrachten, die körperlich nicht miteinander im Zusammenhang stehen - es aber doch taten.....
Er bat um Termine bei Biologen, die ihm als die richtige Adresse für diese Rätsel erschienen, kannten sie den menschlichen Körper doch sehr präzise von innen nach aussen und zurück. Da keiner Zeit für den Bodyworker-Psychologen hatte, studierte er ein weiteres Mal, diesmal Biologie.
Und hat damit die Medizin ein bisschen auf den Kopf gestellt.
Das Ausmaß ihrer (Neu-)Entdeckung ist vergleichbar mit der Erkenntnis, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist.